Mental Health in Gaming: Videospiele erfüllen Grundbedürfnisse und schaffen einen Ausgleich zum Alltagsstress – Jessica Kathmann, Psychologin

Anlässlich des Mental Health Awareness Monats rückt Xbox das mentale Wohlbefinden der Gaming-Community in den Fokus. Videospiele können begeistern, aufkratzen und in einen Adrenalinrausch versetzen – sie können aber auch beruhigen, emotional berühren und einen Ausgleich zum Alltag schaffen. Games sind genauso vielfältig wie die Menschen, die sie spielen. Und sie können die unterschiedlichsten positiven Einflüsse auf unsere Psyche haben.

Heute sprechen wir mit Jessica Kathmann, die im Podcast-Projekt Behind the Screens mit ihren beiden Psychologen-Kollegen über Videospiele aus der Perspektive der Psychologie spricht. Darüber hinaus setzt sie als Psychologin Videospiele in ihrer Psychotherapie ein. Erfahre im Interview, warum Videospiele ein so befriedigendes Gefühl auslösen, wie Games in der Psychotherapie zum Einsatz kommen und wie Du das richtige Spiel für Deine aktuelle Stimmung findest.

Hey Jessica! Du bist nicht nur leidenschaftliche Gamerin, sondern auch Psychologin und verwendest Videospiele in der Psychotherapie. Wie kam es zu dieser Überschneidung von Hobby und Beruf?

Tatsächlich bin ich in einer Familie groß geworden, in der Videospiele weniger kritisch betrachtet wurden. Ich durfte mich daher schon früh an ihnen ausprobieren und so entstand meine Begeisterung für Gaming bereits in der Kindheit. Nachdem ich dann mein Psychologie-Studium beendet hatte, habe ich angefangen in verschiedenen Einrichtungen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu arbeiten, die große Schwierigkeiten hatten, in den Arbeitsmarkt zu finden. Das führte bei ihnen zu großen Belastungen. Es stellte sich schnell heraus, dass Videospiele bei dieser Arbeit ein fantastischer Türöffner waren, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und mit ihnen in psychologische Themen einzusteigen. Ich bemerkte, dass die Jugendlichen genau solche Spiele spielten, die etwas mit ihnen selbst zu tun hatten. Das konnten Spiele sein, die bestimmte Themen behandeln oder Spiele, in denen sie das kompensieren konnten, was ihnen im Alltag fehlte. In dem Fall waren es Spiele mit besonders großen Handlungsmöglichkeiten, in denen sie sich kompetent und gebraucht fühlten. Im Laufe der vielen Gespräche mit ihnen, habe ich festgestellt, dass Videospiele vielfältige Einsatzmöglichkeiten in der Psychotherapie bieten, um mit Patient*innen ins Gespräch zu kommen, sich ihren Problemen auf schonende Weise zu nähern und Barrieren abzubauen. 

Wie wirkt sich Gaming auf Dich ganz persönlich aus? Welche Spiele nutzt Du am liebsten, um einen bestimmten Effekt zu erzeugen?

Es passiert eher selten, dass ich Spiele ganz gezielt auswähle, um mich in eine bestimmte Stimmung zu versetzen. Aber ich bin davon überzeugt, dass meine Stimmungslage Einfluss auf die Wahl meiner Spiele hat. Ich merke zum Beispiel, dass ich in aufgekratzten Momenten, in denen ich voller Energie stecke, eher ein Action-Game spiele, in dem ich mächtig und handlungskompetent bin – hier habe ich viele Möglichkeiten, mich auszupowern. Fühle ich mich unsicher und verwundbar, dann greife ich vielleicht eher zu einem Spiel, das mir sehr vertraut ist – hier weiß ich, was mich erwartet und ich werde nicht überrascht. Aber es geht bei Gaming auch nicht darum, bestimmte Spiele gezielt als Werkzeug einzusetzen. Bei Gaming taucht man ab in eine neue Welt, lässt sich treiben und auf unbekannte Erfahrungen ein.

Was genau können Videospiele für unsere Psyche tun und wie sorgen sie dafür, dass es uns bessergeht?

Einer psychologischen Theorie nach müssen für psychisches Wohlbefinden drei Grundbedürfnisse befriedigt sein: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Viele Spiele sind so konzipiert, dass wir als Spieler*innen in der Lage sind unser Handeln frei zu bestimmen. Außerdem haben wir die Möglichkeit, unsere Fähigkeiten gezielt zu verbessern. Darüber hinaus treffen wir uns in vielen Spielen online mit unseren Freunden und spielen gemeinsam oder gegeneinander im Mehrspieler-Modus. Games eignen sich also hervorragend dazu, menschliche Grundbedürfnisse zu stillen. Aber auch der sogenannte Eskapismus – das bewusste Abtauchen in ein Spiel und die Distanzierung von der Realität – kann uns guttun. Während man sich den ganzen Tag über mit alltäglichen Problemen und Sorgen beschäftigt, verschaffen uns Games eine Pause, in der wir ganzheitlich in eine andere Welt abtauchen und abschalten können – durch diese bewussten Pausen gewinnen wir Abstand und können entspannen.

Diese anderen Welten geben uns auch die Möglichkeit, mit anderen Identitäten zu spielen, in eine andere Rolle zu schlüpfen, sich neue Eigenschaften zu geben und so zu handeln, wie man es sich im echten Leben vielleicht nicht traut. Das alles ist Identitätsarbeit und lässt den Spieler selbstreflektieren. Ein weiterer positiver Effekt von Spielen ist das unmittelbare Feedback auf unser Handeln und das Lob für errungene Erfolge – eine solche unmittelbare Bestätigung lässt im wahren Leben oft auf sich warten. Egal, ob nach einer Klassenarbeit oder nach einem wichtigen Projekt-Abschluss – bis wir Feedback auf unsere Leistung erhalten, müssen wir uns oft in Geduld üben. Erfolge in Videospielen sind da anders. Sie triggern unmittelbar unser Belohnungszentrum, schenken Erfolgserlebnisse und geben uns ein gutes Gefühl.

Wie genau kann man sich Gaming als psychotherapeutischen Ansatz vorstellen?

Tatsächlich gibt es ein paar Spiele, die extra für die Psychotherapie konzipiert wurden – selbst habe ich sie aber noch nicht genutzt. Es gibt zum Beispiel VR-Anwendungen gegen Ängste, wie Spinnen- oder Höhenangst. Mein Ansatz ist allerdings ein anderer. Ich gebe niemanden ein Spiel vor, sondern greife auf, was die Betroffenen gern spielen und gehe mit ihnen durch, weshalb genau dieses Spiel für sie so erfüllend oder interessant ist. Über diesen Ansatz können wir in gemeinsamen Gesprächen Parallelen zwischen der Spielwelt und dem realen Leben der Person hervorarbeiten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Person, die sehr große Probleme damit hatte, Menschen zu vertrauen. Es war sehr schwer, mit ihr ins Gespräch zu kommen, bis wir auf das Thema Videospiele kamen. Hier öffnete sie sich etwas und erzählte mir, dass ihr Lieblingsgenre Survival Games seien. In diesen Spielen steht einem die ganze Welt feindselig gegenüber und das Ziel besteht darin, sich bestmöglich zu schützen und zu überleben. Das passte perfekt dazu, wie sie ihr Leben zu dieser Zeit wahrnahm. Erst über Gaming konnten wir ins Gespräch kommen, eine Verbindung aufbauen, Parallelen zwischen Spielwelt und echtem Leben aufzeigen und Fortschritte machen.

Was sollten Spieler*innen beachten, wenn sie sich eine ausgewogene, für die Psyche gesunde Gaming-Routine aufbauen wollen?

Am wichtigsten ist die Selbstreflexion – denn es ist gar nicht so einfach, herauszufinden, was genau ein Spiel in uns auslöst. Es ist wichtig, sich selbst zu fragen: Wie geht es mir gerade? Was könnte das Spiel jetzt in mir auslösen? Gibt es Spiele, die in diesem Moment vielleicht besser für mich wären? So verhindern wir, dass wir zu einem Spiel greifen, das uns mental aufwühlt oder so aufkratzt, dass wir nicht mehr schlafen können – denn auch der Zeitpunkt zum Spielen ist entscheidend. Es kann also Sinn machen, sich feste Zeiten für Videospiele in den Wochenplan zu setzen – so bleibt die Balance aus fesselndem Spielspaß und Aufgaben des Alltags bestehen. Darüber lässt sich dann auch die Spielzeit regulieren. Die Freizeit sollte aber nicht nur aus Gaming bestehen, denn das Wohlbefinden von Körper und Geist hängen zusammen. Wenn wir uns nicht um unseren Körper kümmern, geht es auch der Psyche schlecht. Manchmal ist es nicht möglich, diese Balance aus eigener Kraft zu finden und es können Isolation oder Spielsucht drohen. In diesem Fall sollte man sich auf keinen Fall scheuen, um Hilfe zu bitten und sich professionelle Unterstützung zu suchen.

Würdest Du sagen, dass Gaming einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit haben kann? Gibt es Spiele, die sich für bestimmte psychische Probleme oder Ängste besser eignen als andere?

Grundsätzlich kann man sagen, dass Spiele auf verschiedene Weise helfen können. Aber jedes Krankheitsbild ist individuell und jeder Mensch braucht eine individuelle Behandlung. Einigen kann es helfen, sich zeitweise von negativen Gedankenspiralen und schwer aushaltbaren inneren Zuständen abzulenken – anderen hingegen hilft eher ein Spiel, das sie direkt mit ihren Gefühlen konfrontiert. So können sie sich einerseits mit ihren inneren Themen auseinandersetzen und sich andererseits mitteilen, indem sie mit anderen über das Spiel und ihre Erlebnisse damit sprechen. Spiele sind extrem unterschiedlich, weshalb sie auch sehr unterschiedlich wirken können. Serious Games beispielsweise dienen hauptsächlich der Aufklärung, während andere Titel Erkrankungen in einem Unterhaltungskontext behandeln und eher über die emotionale Ebene wirken – wie etwa bei Hellblade: Senuas Sacrifice. Hier wird das Krankheitsbild von Psychosen zu einem wichtigen Story-Element.

Trotzdem sorgen sowohl informierende als auch unterhaltende Spiele dafür, dass sich Betroffene verstanden, unterstützt und gesehen fühlen. Auch Gamification – der spielerische Umgang mit alltäglichen Aufgaben – kann einen positiven Effekt haben. So nutzen wir Apps, über die wir tägliche Aufgaben erfüllen, Level aufsteigen und belohnt werden – beispielsweise um genügend zu trinken oder täglich ausreichend Schritte zu gehen. Diese Aufgaben erscheinen uns deutlich attraktiver, wenn wir sie spielerisch bewältigen und via App belohnt werden.

Gibt es Deiner Erfahrung nach bestimmte Spiele, die besonders oft eine positive Wirkung auf Deine Patient*innen haben?

Gerade während des letzten Jahres, in Zeiten von Corona und Lockdown waren Spiele wie Animal Crossing oder Among Us ein Massenphänomen. Denn diese Spiele erfüllen das Grundbedürfnis nach sozialen Kontakten und wir bleiben mit Freund*innen und Familie in Kontakt. Abgesehen von solchen Ausnahmesituationen ist es total individuell, welches Spiel eine besonders gute Wirkung auf einen Menschen haben kann.

Glaubst Du, die Corona-Pandemie hat dabei geholfen, dass mehr Menschen den positiven Einfluss von Spielen wertschätzen?

Wenn man in die Medienlandschaft schaut, würde ich sagen, ja. Man findet deutlich mehr positiv getönte Berichte über Spiele als früher – besonders in den ersten Monaten der Pandemie. Dadurch, dass Menschen viel daheim waren und mehr Freizeit hatten, haben sich auch mehr Menschen außerhalb der Gaming-Community intensiver mit Spielen auseinandergesetzt. Ich denke zwar nicht, dass die Kritik an Videospielen völlig verschwinden wird, aber ich glaube, dass die Pandemie geholfen hat, die positiven Einflüsse und Aspekte von Videospielen anzuerkennen.

Würdest Du Dich mit Deinen tiefenpsychologischen Erkenntnissen an der Spieleentwicklung beteiligen? Wenn ja: Was für eine Art von Spiel würdest Du gerne mitentwickeln?

Ja, das würde ich total gerne! Ich habe kürzlich einen Health Game Jam besucht und konnte an der Entwicklung eines Spiels mitwirken, das Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei helfen soll, eine positive Tagesroutine zu entwickeln. Denn besonders in Zeiten des Lockdowns haben sich viele Menschen antriebslos gefühlt und die Strukturierung ihres Alltags aufgegeben. Das Spiel soll dabei helfen, einen Tag reflektiert zu planen und vor allem Dinge in den Tag zu integrieren, die positiv wirken. Bei diesem Game Jam habe ich sehr viel über die Spieleentwicklung lernen können. Es hat auch geholfen, Spiele besser zu verstehen und herauszufinden, an welchen Stellen Themen wie Psychologie sinnvoll in den Prozess einfließen können.

Grundsätzlich müsste es aber kein Spiel sein, das zwangsläufig mit psychischen Erkrankungen zu tun hat – ich hätte auf alles Lust! Mittlerweile unterrichte ich außerdem an einer Hochschule für Game Design und bringe Studenten bei, wie Psychologie in Videospiele einfließt. Die Themen handeln von psychologischer Spielführung und anderen thematischen Überkreuzungen von Videospielen und Psychologie. Ich denke, Videospiele können einen fantastischen psychotherapeutischen Nutzen haben. Aber auch Spiele werden besser, wenn Studios bei der Entwicklung auch psychologische Aspekte miteinbeziehen.

Wir danken Jessica für die Zeit und den faszinierenden Einblick in ihren Beruf. Weitere Informationen, noch mehr Interviews und die aktuellsten News aus dem Xbox-Kosmos findest Du schon bald hier auf Xbox Wire DACH.

Falls Du von psychischen Problemen betroffen bist, bietet die Stiftung Deutsche Depressionshilfe eine Vielzahl von Tipps, Informationsmöglichkeiten und Anlaufstellen, bei denen Du Hilfe bekommst:


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  • Interview mit Alexander „AlexiBexi“ Böhm, Content Creator
  • Interview mit Julian Laschewski, Spieletester und Autor