Mehr Vielfalt für mehr Nachhall – Wie Videospiele meinen Horizont erweitern
Dieser Artikel wird im Rahmen des Women’s Writers Fund veröffentlicht und bildet die persönlichen Eindrücke unserer Gastautorin ab. Das Pilotprojekt hebt die Stimmen von Frauen in der Gaming-Branche hervor und bietet eine zentrale Plattform für diverse Perspektiven auf Xbox Wire DACH.
Mit manchen Videospielen will ich Abenteuer in geheimnisvollen Welten erleben, mit anderen einfach nur mein Können am Pad testen. Daneben gibt es aber auch solche, die es mir erlauben, andere Perspektiven einzunehmen und ganz neue Eindrücken zu sammeln. Das dürfen – und sollten sogar – die verschiedensten Arten von Eindrücken sein. Ich möchte gerne zum Nachdenken angeregt werden. Zumindest in Momenten, in denen ich mich darauf einlassen kann.
Wie würde ich in dieser Situation reagieren?
Tell Me Why ist ein gutes Beispiel für einen Titel, der mich zu Gedankenspielen inspiriert. In diesem narrativen Adventure schlüpfe ich in die Rolle von Zwillingen, die in ihr verschlafenes Heimatnest zurückkehren, um dort ihr Elternhaus zu verkaufen. Dabei müssen die Geschwister, Alyson und Tyler, sich mit den verschiedensten Kindheitserinnerungen auseinandersetzen.
Tyler ist ein trans Mann, den ich als sympathischen, facettenreichen und gleichzeitig in seiner Identität gefestigten Typen wahrnehme. Bei meinem Spieldurchlauf gibt es für ihn auch noch eine süße Romanze obendrauf. Als Autorin finde ich zudem den Kniff interessant, den das Studio DONTNOD verwendet, um trotz der Rückblicke nicht Tylers alten Namen – seinen belasteten Deadname – zu verwenden. In Vergangenheitsszenen wird er bei seinem Spitznamen genannt, und den hat er selbst gewählt.
Aber es ist nicht alles eitel Sonnenschein: Während ich Tyler spiele, erlebe ich immer wieder, wie er aufgrund seiner Identität offen angefeindet oder mit peinlichen Aussagen konfrontiert wird. So sagt beispielsweise ein alter Bekannter der Familie zu ihm, dass er nicht gewusst habe, „dass man als Frau so wie ein Mann aussehen kann.” Ich kenne Ähnliches aus Erfahrungsberichten und TV-Serien, doch der Unterschied beim Spielen ist, dass ich mir als Cis-Person (Person, die sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert) zum ersten Mal selbst überlegen muss, wie ich darauf reagiere. Die Spielmechaniken basieren nämlich auf Entscheidungen und Dialog-Optionen der Zwillinge.
Ja, es ist nur ein Spiel und nein: Ich will mir in keiner Weise anmaßen, das mit realen Erfahrungen gleichzusetzen, aber trotzdem befasse ich mich beim Spielen persönlicher mit dem Thema als beim Lesen. Ich habe sofort Gedanken, wie: „Würde ich im echten Leben genauso antworten? Was wären wohl die Folgen?“
Die Welten zweier starker Heldinnen
Ganz andere, aber ebenso nachhallende Eindrücke sammle ich in Hellblade: Senua’s Sacrifice und The Vale: Shadow of the Crown. Obwohl die Titel sehr verschieden sind, gibt es auch Gemeinsamkeiten –die Entwicklerteams haben sich beispielsweise viel Mühe gegeben, mich die Welt so erleben zu lassen, wie ihre Heldinnen sie auch wahrnehmen.
Beide Spiele schicken mich in historisch inspirierte Settings. In Hellblade spiele ich Senua, eine Pikten-Kriegerin, die mit persönlichen Traumata und Schizophrenie lebt. Ich erfahre, dass sie auf dem Weg zu der Totengöttin Hela ist, um diese dazu zu bewegen, ihren Liebsten Dillion wieder zum Leben zu erwecken.
Im Verlauf der Geschichte erkenne ich, dass ich mich gleichzeitig auf einer Reise durch Senuas Bewusstsein befinde. Ob es die Stimmen sind, die mir zuflüstern, um mich zu beeinflussen oder die maskierten Krieger, denen ich mich stelle: Das Spiel zeigt mir Senuas Lebenswirklichkeit – und nur diese. Dadurch gewinne ich nicht nur einen Einblick in ihr Seelenleben, sondern mache mir auch bewusst, dass es so etwas wie die eine objektive Wahrheit gar nicht gibt, da jede Person eine Situation individuell erlebt.
Ganz anders nimmt Alex, die blinde Prinzessin aus The Vale, ihre Umgebung wahr – und davon bekomme ich eine grobe Vorstellung, während ich mit ihr Abenteuer in einer rein audiobasierten Spielwelt erlebe. Auf meinem Bildschirm gibt es dabei nichts zu sehen (abgesehen von ein paar Partikeln und Text-Menüs, die vorgelesen werden). Durch diese Spielmechaniken sorgt der Titel dafür, dass ich mich voll und ganz auf das Hörerlebnis einlasse. Ich muss mich nämlich nicht nur selbstständig in der Audiowelt orientieren, sondern sogar im Kampf erkennen, aus welcher Richtung ich angegriffen werde, um entsprechend zu reagieren.
Ich sammle eindrucksvolle, aber natürlich wieder nur spielerische Erfahrungen. Mit dem Alltag Betroffener ist das nicht vergleichbar. Aber das Spielerlebnis sorgt dafür, dass ich wissen will, wie eben dieser Alltag aussieht – im 21. Jahrhundert. Nachdem ich die Konsole ausgeschaltet habe, besuche ich Fachseiten zu Schizophrenie und Sehbehinderungen: Themen, die vorher kaum auf meinem Radar waren.
Wenn ich über ernste Geschichten stolpere
Spoiler-Warnung: Der nachfolgende Abschnitt enthält milde Story-Spoiler zu What Remains of Edith Finch und Firewatch.
Was die bereits genannten Spiele angeht, so wusste ich bereits im Voraus, dass mich unter anderem ernste Themen erwarten. Manchmal entdecke ich solche aber auch in Titeln, in denen ich nicht damit rechne. Überrascht werde ich beispielsweise in What Remains of Edith Finch oder Firewatch. Auf den ersten Blick handelt es sich um entspannte Walking Simulators mit hübschem Grafikstil, aber die Geschichten, die ich dabei erkunde, haben es so richtig in sich.
What Remains of Edith Finch erklärt mir anfangs, ich hätte es mit einem Familienfluch zu tun. Als ich jedoch in einem wunderbar surreal anmutenden Haus verschiedenen Todesfällen nachgehe, gelange ich langsam zu einer anderen Interpretation: Die Tragödien scheinen nichts Übernatürliches an sich zu haben. Die Storys handeln von irdischen Unfällen und (mentalen) Erkrankungen.
Auch bei Firewatch stoße ich, dieses Mal in der malerischen Wildnis Wyomings, auf ein ernstes Thema. Protagonist Henry hat sich nämlich nicht nur aus Naturliebe entschieden, eine Stelle als Feuerwache in einem Nationalpark anzutreten. Während ich dort verschiedenen Vorkommnissen nachgehe, erfahre ich, dass er mit dem neuen Job nicht nur seinem Alltag sondern vor allem der Alzheimererkrankung seiner Frau entflieht.
Unerwartet auf diese Storys zu stoßen, empfinde ich als ziemlich wirkungsvoll. Es erinnert mich auch daran, dass oft mehr hinter einer Situation steckt als auf den ersten Blick sichtbar ist. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass ich nur von solchen Geschichten überrascht werden will, wenn ich die mentale Kapazität dafür habe. Wenn ich gerade Aufmunterung brauche, greife ich doch lieber zu leichter und gutgelaunter Spiele-Kost. Darum ist es in solchen Momenten ratsam, sich gut im Voraus über die Spieleauswahl zu informieren.
Sichtbarkeit und Verständnis schaffen
Videospiele fordern mich heraus und belohnen mich. Das gilt nicht nur für Bosskämpfe, sondern auch für ihre Geschichten. Die können mir etwas abverlangen, mir aber auch viel zurückgeben, wenn sie mich „über den Controllerrand hinausschauen“ lassen. Allerdings funktioniert das nur, wenn ich mich auf die Storys gerade auch einlassen kann.
Ich bin froh, dass es Entwicklerteams gibt, die diese vielfältigen Spielerlebnisse schaffen. Das ist nicht nur wichtig um, wie beschrieben, neue Eindrücke zu sammeln und ein anderes Verständnis für Themen zu entwickeln, sondern auch, um dafür zu sorgen, dass sich mehr Menschen in Videospielen wiederfinden können. Die genannten Beispiele zeigen, dass die Spielebranche diesbezüglich schon einiges zu bieten hat, insgesamt darf es aber für mich gerne noch tiefgründiger und diverser werden. Besonders im Indie-Sektor entdecke ich oft spannende Titel. Aber ich hoffe, wir werden künftig einfach noch mehr Spiele sehen können, die bisher wenig beachtete Lebensrealitäten und unterrepräsentierte Personengruppen in den Mittelpunkt stellen – und das auf empathische Weise.
Über unsere Gastautorin Samara Summer
Samara sammelte ihre ersten Videospielerfahrungen in den 90er-Jahren. Damals, in ihrer Grundschulzeit, standen vor allem Jump ’n’ Runs auf dem Plan. Über die Jahre hat sie allerdings andere Genres für sich entdeckt und greift inzwischen meist lieber zu Souls-Games und Horrorspielen. Daneben schlägt das Herz der Freien Autorin ganz besonders für charmante Indies – und allgemein für alle Titel, die spannende Geschichten erzählen. Seit 2020 schreibt sie als Freelancerin für GamePro.de über diese Spiele. Als Texterin arbeitet sie seit 2013 und ist auch auf Twitter vertreten.