Women's Writers Fund: "Nein, anderes!" - Ein Abend unter Geschwistern_ HERO

„Nein, anderes!“ – Ein Abend unter Geschwistern

Dieser Artikel wird im Rahmen des Women’s Writers Fund veröffentlicht und bildet die persönlichen Eindrücke unserer Gastautorin ab. Das Pilotprojekt hebt die Stimmen von Frauen in der Gaming-Branche hervor und bietet eine zentrale Plattform für diverse Perspektiven auf Xbox Wire DACH.


„Liebe Fabiola, könntest Du Freitagabend für ein paar Stunden auf Deinen Bruder aufpassen? Er ist dieses Wochenende zuhause, aber Karla und Ulli haben mich spontan auf eine Veranstaltung eingeladen und da würde ich so gerne mitgehen.“

Als ich vor nicht allzu langer Zeit diese Nachricht meiner Mutter erhielt, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich freute mich, dass meine Mama sich mal wieder einen schönen Abend gönnen würde; zudem könnte ich so vielleicht gleichzeitig auch ein bisschen Zeit für die „Pflege“ meiner Xbox Series X finden. Durch meinen Vollzeit-Job als Krankenschwester und den alljährlichen unfreiwilligen Rekordversuchen im Frühjahrsmüdigkeits-Dauerschlafen haben meine Konsolen weitaus weniger Zuwendung erhalten, als sie eigentlich verdient hätten. Dass ich mit meinem Pile of Shame mittlerweile noch ein weiteres Jahr Pandemie überbrücken könnte, beruhigt mich auch nur bedingt, weshalb ich meiner Mama ohne zu zögern eine Zusage gab.

Nur wenige Tage später packe ich meine Xbox Series X samt Zubehör in ihre Transporttasche (manch Banause würde sich wohl über meine kunstvolle Handtuch-Wickeltechnik königlich amüsieren) und schnalle diese vorbildlich neben mir auf dem Beifahrersitz fest, um nach einer kurzen Autofahrt pünktlich um 19:30 Uhr vor dem Haus meiner Eltern einzutreffen. Ich drücke auf die Türklingel, die im Inneren mit einem freundlichen Ton meine Anwesenheit verkündet. Es vergehen mehrere Augenblicke, bis sich die dunkelgraue, schwere Haustür wie von Geisterhand öffnet und den Blick in den warm erleuchteten Flur freigibt. Bis auf die hölzerne Garderobe und einige Paar Schuhe scheint mich niemand zu erwarten, weshalb ich das für uns Geschwister übliche Vorgehen mit meinem lauten „Hallo Felix!“ beginne. Kurz bleibt es noch ruhig, dann hüpft freudestrahlend mein kleiner Bruder Felix hinter der Tür hervor, wobei sich das Wort „klein“ lediglich auf das Geburtsdatum bezieht. Breit grinsend steht ein knapp 180 cm großer, schlaksiger, 26 Jahre junger Mann vor mir, dessen dunkelbraune Augen mich nur kurz fixieren, während er mir vor Freude glucksend seine Hand entgegenstreckt. Ich erwidere seine Begrüßung und trete näher an Felix heran, der sich von mir umarmen lässt. Felix befindet sich auf dem autistischen Spektrum und ist eigentlich kein großer Fan von Nähe. Aber unser kleines Ritual kennt er von Kindesbeinen an und findet es dann doch immer ganz witzig.

„Die Sadola is daaaaa!“ jubelt er in seiner unnachahmlichen Art. Seine logopädischen Einschränkungen sind für Familienangehörige und enge Vertraute zum Glück kein Problem, weshalb ich der Einfachheit halber die weiteren Dialoge direkt vom „felixianischen Dialekt“ ins Schriftdeutsch übersetzen werde. Auf meine Frage, wie es ihm geht, antwortet er mit verschmitzter Miene: „Guuuut! Ich hab Carina geärgert und Kuchen gegessen!“ Alles klar, mein jüngster Bruder ist noch ganz der Alte, immerhin geht es ihm „guuuut“.. Natürlich muss ich innerlich wie so oft wieder einmal lachen, wenn der Quatschkopf selbst bestätigt, dass er seinem Ruf alle Ehre macht und auf seine liebenswürdige Art und Weise für ein bisschen Chaos in der Wohngruppe sorgt. Da mir aber auch bewusst ist, dass sich einige seiner Mitbewohner mit ebenfalls geistiger Behinderung gerne von ihm anstecken lassen, versuche ich ein Vorbild zu sein und ermahne ihn mit schwesterlicher Strenge in der Stimme: „Aha.“ Dem prüfenden Blick, der mich daraufhin streift, folgt ein schelmisches Grinsen – Felix hat verstanden, weiß aber auch, dass ihm niemand lange böse sein kann.

Währenddessen gesellt sich unsere Mama zu uns und verabschiedet sich: „Seine Tabletten hat Felix vorhin bekommen, gegessen haben wir auch schon. Ich komme wahrscheinlich eh nicht so spät, aber zur Not liegt im Bad auch ein frischer Schlafanzug.“ Ich nicke, gebe ihr aber den Auftrag, ganz viel Spaß zu haben und nicht auf die Uhr zu schauen. „Sei lieb Felix, wenn du morgen früh aufstehst bin ich auch wieder Zuhause. Benimm dich!“ Sie streckt sich, um Felix über den Kopf zu streicheln, drückt mich herzlich und schlüpft zur Tür hinaus, wo ihre Bekannten schon auf sie warten.

Felix schaut dem Trio durch das Küchenfenster noch eine Weile nach, dreht sich dann zu mir um und verkündet: „Ich hab´ Hunger!“ Eine verlässliche Quelle hat mich allerdings jüngst darüber informiert, dass mein gefräßiger Bruder vor nicht ganz einer Stunde bereits etwa 500 Gramm Spaghetti Bolognese verdrückt hat – sein eben angemerktes Bedürfnis dürfte dementsprechend nicht akut lebensbedrohlich sein. Aus geschwisterlichem Mitgefühl biete ich trotzdem an, ihm eine kleine Portion Grießbrei zu kredenzen, den ich vorsorglich mitgebracht habe. Während Felix selig die mit Marmelade garnierte Milchspeise in sich hinein schaufelt, befreie ich vorsichtig meine wertvolle Konsole aus ihrem Handtuch-Bunker und schließe sie an den Fernseher im Wohnzimmer an.

„Was machst Duuuu?“ Felix, der seinen Teller in Lichtgeschwindigkeit geleert und brav in die Küche getragen hat, steht hinter mir und beobachtet neugierig, wie ich das Kabel an den HDMI-Anschluss stecke. „Ich schließe meine Xbox an. Dann kannst du mir ein bisschen beim Spielen zuschauen, bevor Du dann ins Bett gehst, okay?“ Mein Bruder hat eine anstrengende Woche hinter sich: täglich früh aufstehen, in die Förderstätte gehen, zudem mehrere Einheiten Ergotherapie und Logopädie an den Nachmittagen absolvieren und abends aufregende TV-Quizsendungen mit der Wohngruppe anschauen. Normalerweise ist Felix freitags ziemlich platt und geht früh schlafen. Die Chancen, dass dies auch heute der Fall sein wird, stehen gut, denn er hat es sich bereits auf der Couch bequem gemacht und wartet gespannt darauf, was wohl als nächstes passiert. Mit einem sanften Pling wecke ich meine Xbox aus ihrem Dornröschenschlaf und starte Dying Light 2, welches in den letzten Wochen mangels Zeit nur stiefmütterlich von mir gespielt wurde. Doch mir sind nur wenige Minuten Parkour- und Zombie-Freude vergönnt, bis es zu meiner Linken laut seufzt und der Satz ertönt, der mich näher an mein Verderben bringen sollte: „Nein, bitte anderes!“

"Nein, anderes!" - Ein Abend unter Geschwistern HERO

Gut, Blut und Gedärm sind nicht jedermanns Sache, weswegen ich etwas betrübt zurück in meine Spielebibliothek wechsle. Gears 5 ist dann wohl auch keine Option, also versuche ich es mit Assassin’s Creed Valhalla. Ich spiele mit Eivor allerdings nur wenige Sekunden, da höre ich es schon wieder: „Nein, anderes!“

Ich ahne bereits, worauf es hinauslaufen wird, doch ich versuche den Gedanken eisern zu verdrängen. Meine letzte Hoffnung ruht jetzt auf dem Master Chief, aber nicht einmal der tolle Soundtrack von Halo Infinite kann den musikaffinen Felix umstimmen.

„NEIN, AN-DER-ES!“

Langsam wird er ungeduldig, weshalb er sich Fernbedienung samt Fernsehzeitung schnappt und mit beidem aufgeregt vor meiner Nase herumwedelt.

„ANDEREEES!“

Die Programmzeitschrift leidet sichtlich unter der energischen Forderung und so nehme ich Felix das mittlerweile zerfledderte Magazin ab, um den heutigen Tag aufzuschlagen. Als ich auf der Seite mit den Regionalprogrammen ankomme quietscht Felix vor Freude und deutet auf ein Bild, so groß wie eine Briefmarke. Mein Blick bleibt an seiner Fingerspitze hängen. „Oh nein, bitte nicht!“, entfährt es mir, doch es ist zu spät.

Felix jubelt, „MUSIKANTENSTADL!!!“, und ich rebelliere innerlich gegen das Grauen, welches mich in den nächsten sechs Stunden mit Volksmusik, Schlagern und seichtem Smalltalk quälen wird, denn natürlich werden zwei Aufzeichnungen am Stück gesendet. Mit den ersten quäkenden Tönen des Blasmusikorchesters beginnt das Publikum munter zu schunkeln und auch Felix springt umgehend von der Couch auf. Die folgenden Show-Acts bleiben mir immerhin visuell erspart, denn mein Tanzbär wiegt sich ab sofort nur rund 50cm vom Bildschirm entfernt zum Takt der Musik von links nach rechts und klatscht sich in den Pausen die Seele aus dem Leib. Felix ist voll in seinem Element, ihn jetzt ins Bett bugsieren zu wollen ist ein aussichtsloses Unterfangen. So erfahre ich auch notgedrungen, wer die Kastelruther Spatzen, Die Amigos und Die Draufgänger sind und sehe keinen anderen Ausweg, als mir mangels Kopfhörern ein Kissen auf die Ohren zu drücken. Ich denke mich im Geiste zurück auf das letzte Rammstein-Konzert und langsam gelingt es mir, Stefan Mross, Ella Endlich und diverse andere mir nicht bekannte Quälgeister im Hintergrund schrittweise auszublenden und merke gar nicht wie sich die müden Augen langsam schließen…

Ich spüre die Hitze der Feuershow und den Druck der Bässe, singe mit 70.000 anderen Fans Sonne und Ohne Dich und erinnere mich an die Gänsehaut, die dieser Chor erzeugt hat. Zu meiner rechten Seite reckt John 117 seine behandschuhte Hand in die Höhe, nur um wenige Sekunden später von einem schlecht gelaunten Eichhörnchen hinter ihm darauf aufmerksam gemacht zu werden, er würde ihm im Bild stehen. Während der Spartan wüst beschimpft und mit Bierdosen beworfen wird, redet Cortana immer wieder auf das Vieh ein: „Conker, jetzt beruhige Dich doch endlich! Bleib` locker!“. Verwundert angesichts der aufgeheizten Stimmung rutsche ich näher an Eivor und Alexios heran, die sich zu meiner Linken brüderlich in den Armen liegen und aus heiseren Kehlen inbrünstig jeden Liedtext mitgrölen. Als auf der gigantischen Leinwand hinter der Bühne das Xbox-Logo erscheint und mich Till Lindemann per Mikrofon dazu auffordert, einfach ein Spiel meiner Wahl zu starten, schrecke ich abrupt hoch – habe ich da gerade die Haustür ins Schloss fallen hören?

Mir rutscht das Herz in die Hose, als ich bemerke, dass das Klatschen und Hopsen meines Bruders verstummt ist. Wo ist er? Panisch setze ich mich auf, während im Hintergrund hämisch ein gewisser Anton aus Tirol besungen wird. Felix liebt dieses Lied und würde es niemals verpassen! Wann bin ich nur eingeschlafen!? Plötzlich nehme ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr und die zierliche Silhouette meiner Mama schält sich aus der Dunkelheit. Noch bevor ich etwas sagen kann, lächelt sie und deutet auf den Berg aus Kissen und Decken neben mir, aus dessen Innerem tiefe, gleichmäßige Atemzüge zu vernehmen sind. Ich schiebe vorsichtig die oberste Lage Wolldecke zur Seite und entdecke einen friedlich schlummernden Felix, der meinen Xbox-Controller behütend in die Arme geschlossen hat. Im Hintergrund stimmt Helene Fischer just in dem Moment ein Liedchen an, als mir ein gigantischer Stein vom Herzen fällt und Felix zu seinem Lieblingslied die müden Augen öffnet. Nur für ihn summe ich leise mit: „Atemlos durch die Nacht, spür´ was Liebe mit uns macht…“

Über unsere Gastautorin Fabiola Günzl

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Unsere Gastautorin Fabiola Günzl ist Baujahr 1986 und seit frühster Kindheit Gaming-Fan – am liebsten zockt sie Spiele mit Zombies, aber auch Koop-Shooter und Action-Adventures. Zwar ist sie von Hauptberuf Krankenschwester, schreibt aber als freiberufliche Autorin auch bei M!Games. Sie hat außerdem zwei Brüder: Mit dem einen zockt sie regelmäßig, doch dieser Artikel ist ihrem anderen Bruder Felix gewidmet, zu dem sie ein ganz besonderes Verhältnis hat.